Lyrik

Der folgende Text ist als Vortragsgedicht für die LESEBÜHNE 2021, eine Veranstaltung des Bezirks Reinickendorf von Berlin, entstanden und dort am 1.09.2021 vorgetragen worden

 AQUA ALTA

(Eindrücke nach der Lektüre der gleichnamigen Venedig-Erzählung aus dem Erzählband „Nichts als Gespenster“ von Judith Hermann, gefolgt von einem Gewittererlebnis mit Starkregen am 25. Juli 2021 auf dem Fahrrad mitten im Wald)

 

AQUA ALTA

Das blaue Buch ist aufgedunsen / vom Wasser, das aus Himmelsschleusen
Die Ritzen allen Seins durchdrang.
Azur die nassen Seiten, doch der Text blieb heil.
Lakonisch, fremd und destruktiv, die Dichterin / will nicht gefallen, nur verstören.

Die Zornesblitze aus der Troposphäre, sind sie die Vorboten des Klimagrauens,
die Rache der Natur oder bloß Wetterkapriolen? / Solche Deutung greift zu kurz.
Im Auge des Gewitters gibt es eine Gottheit, / die lachend mit den Kräften der Natur
die Welt durchtobt: mit Feuer, Wasser, Sturm, das alte Kinderspiel, die Regeln sind bekannt:

Bei Feuer rennen alle schnell nach draußen.
Bei Wasser flieht, so hoch es geht. Geht’s nicht, dann: stehen bleiben, Schwimmbewegung machen.
Bei Sturm festklammern, um nicht wegzuwehen.

Wer langsam ist, hat schon verloren, willkürlich
Skandiert die Gottheit die Kommandos, bis das Tempo steigt.
Die Gottheit lacht am längsten, immer bleibt sie Sieger
In der Ko-Inzidenz der Katastrophen; / das Weltgescheh‘n ist ihr
gelegentliches Abenteuer.

Die Spieler taumeln durch den Wellengang, wo Gondeln Trauer tragen,
Durch Innenstädte, die wie Wadis in der Regenzeit
durchfließt ein Urschleim aus Fäkalien, Gift und Aas.
Im Brackwasser versinkt die Hoffnung, und die Gottheit zwinkert
den lächerlichen Erdenrettern zu.

Dann pustet sie jenseits der Meere / den Sturm ins Wasserglas, dreht sich herum
und schon ist Ruhe vor den Toten und vor der Verwüstung.
Kommando „Feuer“ und die Brände fressen sich / munter durch warme Länder, Urlaubsresidenzen.
Indes, die Gottheit kuschelt sich an den Kamin, / hei, wie das Fegefeuer knistert.

Wo Feuer, Wind und Wasser ohne Macht,
da rast ein Sturm phallischer Kraft, am Hindukusch / hat sich Demokratie verkalkuliert.
mit Flucht statt Flut, vor der entfesselten Gewalt. Warum, o Gottheit, hast du diesen Mob gerufen, wo ist die Regel für das Spiel?
Die Gottheit grinst: die Regeln mache sie.

Wo Menschengeist versagt, geht er mithilfe künstlicher Intelligenz viral,
Flieht vor der Wirklichkeit in die gedächtnislose Zukunft.
Die Todessehnsucht kennt kein Halten mehr, der Absturz naht; im Fallen ist
Das Leid des Aufpralls nichts / als eine kindliche Erwartung:
Ein Avatar kennt keinen Schmerz.

Die Gottheit spielt nicht mehr, gelangweilt von der Selbstzerstörungswut der Menschen
Weint melancholisch sie im Weinberg lautlos in die Reben,
der neue Jahrgang schmeckt nach Salz.
Schaut her, der Popanz schweigt: Ist das nun die ersehnte Götterdämmerung?

Brächten wir Brände und die Fluten
zusammen, dass sie zischten wie Geysire aus Champagner.
Brächen die Berge, wälzten in die Täler, machten alles eben
Verstummten Stürme ausgetobt, in tiefer Ruhe.

Träfe die Sintflut Seuchen, Lügen und die Lebensmüdigkeit,
verstünde sie den Algorithmus falscher Emotionen / und stoppte sie die Unwucht billiger Metaphern;
verschlänge sie entsorgten Müll und alles was im Überfluss, das Leben stört.
Am Ende wäre alles nur ein Spiel, ein Spuk, nichts als Gespenster
im Trugschluss einer unruhigen Nacht.

Osttirol, im August 2021